postmoderne Philosophien der Differenz: Radikale Fortschrittskritik

postmoderne Philosophien der Differenz: Radikale Fortschrittskritik
postmoderne Philosophien der Differenz: Radikale Fortschrittskritik
 
Als am Ende des Zweiten Weltkrieges Europa den Anblick eines Trümmerfeldes bot, mit dem eine selbstzerstörerische Zivilisation ihren Tiefpunkt erreicht zu haben schien, wurde Paris zum Ort, von dem jahrzehntelang die stärksten produktiven Anstöße auf dem Gebiet der Philosophie ausgingen. Die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte standen im Zeichen existenzieller Varianten des Marxismus, geprägt durch Phänomenologie und Existenzialontologie, durch hegelsche Dialektik, marxsche Entfremdungstheorie und freudsche Psychoanalyse. Nach dieser Erneuerung emanzipatorischer Hoffnungen fiel auch die Verarbeitung enttäuschender Erfahrungen in Frankreich intensiver aus als in anderen Ländern. Was die in die USA emigrierten deutschen Gesellschaftstheoretiker Max Horkheimer und Theodor W. Adorno während der letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges in der »Dialektik der Aufklärung« begonnen hatten - die Diagnose einer Realität, in der sich kein Funke von Vernunft, kein Potenzial für die allgemeine Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mehr erkennen ließ -, fand in gewisser Weise seit den Sechzigerjahren eine Fortsetzung bei einem breiten Spektrum französischer Philosophen und Soziologen, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller.
 
Inspirierend waren dabei Friedrich Nietzsche und die ästhetische Moderne. Das Animierende an ihnen ist ein spielerischer, experimentierender Umgang mit den Phänomenen. Gerade für das, was von einem einerseits leistungs- und nutzenorientierten, andererseits auf Unterhaltung und Erbauung bedachten Bürgertum verleugnet oder verpönt wurde, entwickelte die avancierte Kunst der Moderne einen offenen Sinn. Wie sie vertreten die Philosophien der Differenz ein Denken, das für möglichst vielfältige Einflüsse offen und seinerseits vielfältig ist. Daher bis hin zum Verfall der Identität die Rede vom »Tod des Subjekts«, von »Antihumanismus«.
 
»In äußerster Vereinfachung kann man sagen: »Postmoderne« bedeutet, dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt«, behauptet Jean-François Lyotard in seiner Studie »Das postmoderne Wissen« (1979). Mit »Metaerzählungen« meint er geschichtsphilosophische Fortschrittskonzeptionen wie die hegelsche von der Weltgeschichte als allgemeiner Verwirklichung des Prinzips der Freiheit oder die marxsche von einer zur Assoziation freier Individuen führenden Dynamik von Klassenkämpfen. Was nach dem Ende des Glaubens an Metaerzählungen bleibt, ist die »Heterogenität der Sprachspiele«. Auf Wittgenstein zurückgreifend, bringt Lyotard damit auf den Begriff, welche Chancen neben dem Risiko eines unkontrollierten Wucherns wirtschaftsdynamischer und technokratischer Systeme im Zerfall gesamtgesellschaftlicher Utopien liegen könnten: die Chancen zur Verfeinerung des Sinns für Unterschiede und zur Stärkung der Fähigkeit, unvereinbar Scheinendes, Inkommensurables zu ertragen. In einem Interview formuliert Lyotard als Utopie: »Die Gerechtigkeit wäre folgende: der Vielfalt und Unübersetzbarkeit der ineinander verschachtelten Sprachspiele ihre Autonomie, ihre Spezifizität zuzuerkennen. ..; mit einer Regel, die trotzdem eine allgemeine Regel wäre, nämlich »lasst spielen. .. und lasst uns in Ruhe spielen«.«
 
In seinem philosophischen Hauptwerk »Der Widerstreit« (1983) geht es Lyotard darum, die Möglichkeit einer Verständigung über Uneinigkeit darzulegen, ohne dabei Zugeständnisse an eine Vorstellung von Konsens zu machen, bei der einem der Standpunkte die Möglichkeit zu angemessenem Ausdruck verwehrt ist. »Zwischen zwei Parteien entspinnt sich ein Widerstreit, wenn sich die »Beilegung« des Konflikts, der sie miteinander konfrontiert, im Idiom der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert.
 
Der Differenz-Denker mit der größten Wirkung wurde Michel Foucault. In einer Reihe wissenschaftshistorischer Untersuchungen zu einer »Archäologie der europäischen Moderne« analysierte er die Entstehung und Entwicklung verschiedener Wissens- und Machtsysteme, so die Psychiatrisierung der Wahnsinnigen, die Genese der klinischen Medizin, der anthropozentrischen Denkform, des Justiz- und Strafapparates und der Sexualität. Foucaults »diagnostische Aktivität« zielte stets darauf, die Gewaltsamkeit und die unheilvollen Folgen einer Scheidung von Wahn und Vernunft, von Pathologischem und Rationalem aufzuzeigen, durch die überschießende Regungen des Körpers und der Fantasie diskriminiert und unter Strafe gestellt wurden. Ans Licht brachte er damit die »dunkle Kehrseite« der Aufklärung, in der die Herausbildung der Identität rational handelnder Individuen verknüpft ist mit der Steigerung ihrer sozialen Kontrollierbarkeit und Kontrolliertheit.
 
In der Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft beispielsweise meint Foucault einen Bruch wahrnehmen zu können: Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war der Wahnsinn im abendländischen Kulturbereich Teil der alltäglichen Erfahrung und der Sprache aller, Teil auch der bildenden Kunst und Literatur, wie etwa die Bilder Hieronymus Boschs und Pieter Bruegels oder die Dichtungen Sebastian Brants und Shakespeares zeigen. Mitte des 17. Jahrhunderts aber wurde der Wahnsinn seiner Sprache beraubt und in Anstalten verbannt. Als man im Gefolge der Französischen Revolution auch die zusammen mit den Delinquenten inhaftierten Wahnsinnigen befreite, wurden diese einer umso stärkeren moralischen Internierung unterworfen. Die Geschichte des Wahns - so die für Foucaults historische Analysen epistemologischer Strukturen charakteristische Pointe - ist nicht die Geschichte der fortschreitenden Entdeckung seines wahren Wesens, sondern nur die Ablagerung dessen, was die Geschichte des Abendlands seit drei Jahrhunderten aus ihm gemacht hat. Dem historischen Rückblick gewinnt Foucault das Modell einer möglichen Utopie ab. Das skeptische Spiel einer Vernunft, die ihre Grenzen erkennt, möchte er ersetzt sehen durch »das härtere, gewagtere, ernsthafter ironische Spiel einer Vernunft, die ihre Partie gegen den Irrsinn spielt.«
 
Gilles Deleuze stellte den »Bürokratien« des Marxismus und der Psychoanalyse Nietzsche als Begründer einer Gegen-Philosophie gegenüber. Das von ihm propagierte »Rhizomdenken« soll heterogene Gedankenwelten gleichsam unterirdisch, ohne Dominanzverhältnisse und mit dem Sinn für die Vielfalt von Ansatzmöglichkeiten in lockere Beziehungen zueinander bringen. Dadurch soll das unter dem Druck des kapitalistischen Systems Isolierte und an den Rand Gedrängte zum kreativen Potenzial eines unsystematischen Widerstandes werden.
 
Jacques Derrida geht es in der Nachfolge Heideggers darum, nicht nur der Vernunft der Moderne, sondern der gesamten abendländischen Metaphysik zu entkommen. Deren Gewaltsamkeit sieht er darin, dass seit Platon alles Wissen auf ein als präsent gedachtes Zentrum zurückgeführt wird. Der Logozentrismus unterstellt die eindeutige Beziehung von Signifikant und Signifikat - Bezeichnendem und Bezeichnetem - im Rahmen eines Systems der Repräsentation und geht mit der Abwertung der Schrift als eines gegenüber der gesprochenen Sprache sekundären Phänomens einher. Der mit solcher »Metaphysik der Präsenz« verbundene Anspruch der philosophischen Sprache auf Eindeutigkeit wird von Derrida zurückgewiesen. Die Sprache ist nicht von einem vorsprachlichen Denken her aufzufassen, sondern als eine Strukturierungsinstanz, ohne die das Denken nicht möglich ist. Das vom Bewusstsein Bedeutete ist nur als von der Sprache Bedeutetes. Einen Text auf ein Subjekt und das von ihm Gemeinte hin auslegen zu wollen, verfehlt den Text. Weil die Bedeutung einzelner Elemente unter den Signifikanten durch ihre Differenz zu anderen, benachbarten oder semantisch verwandten Elementen zustande kommt und weil Sprache kein abgeschlossenes System ist, geht es bei der Neulektüre von Texten nicht um das Treffen oder Verfehlen der Bedeutung, sondern um eine endlose Sinnverschiebung. Derridas Denken vollzieht sich wesentlich als »Dekonstruktion«, als detaillierte Subversion fixierender Begriffe.
 
Derrida verwendet das Wort »différance« bewusst doppeldeutig, um den Prozess des Differierens im doppelten Sinne des Verbs »différer« (französisch = aufschieben, verschieden sein) zu bezeichnen. In Analogie zur Auffassung Nietzsches, dass es nur die Welt der Erscheinungen gebe und kein dahinter verborgenes Wesen, existiert für Derrida nur das unabschließbare und bodenlose Spiel der Differenzen, die Bewegung der Signifikanten. Auch das Subjekt ist dann nicht mehr als ein durch Identität und Autonomie bestimmtes Wesen zu denken, sondern als Differierendes, in den Bewegungen der Differenz Aufgehendes. Wie Foucault gelangt Derrida zu einer sprachphilosophisch begründeten Dekonstruktion des sinnkonstituierenden Subjekts - eine Erbschaft des strukturalistischen Denkens. Auch bei ihm steht am Ende das Subjekt als Fiktion da, ist an die Stelle einer gewaltsamen Identitätsbildung die Auflösung des Subjekts getreten.
 
Eine sarkastisch wirkende Variante radikaler Fortschrittskritik stellten Baudrillards Zeitdiagnosen dar. Er sah eine Steigerung der Vielfalt am Werk, die zur gegenseitigen Neutralisierung der Möglichkeiten führt und im weißen Rauschen der Indifferenz endet. Die nietzscheanische Denkfigur des fiktiven Charakters ewiger Wahrheiten angesichts der flüchtigen Erscheinungen wird von ihm modifiziert zur Diagnose einer Agonie des Realen und einer Allherrschaft der Simulation im Zeitalter der Informationsgesellschaft. Während Deleuze und Félix Guattari ein »Rhizomdenken« diffus vernetzter Singularitäten verfechten, diagnostiziert Baudrillard einen Zustand, in dem alles miteinander zusammenhängt und gleichzeitig nichts mehr einen erkennbaren Zusammenhang ergibt. Während Derrida mit der »différance«, dem unabschließbaren Prozess der Interpretation, eine Alternative zum identifizierenden Denken zu eröffnen meint, diagnostiziert Baudrillard ein Spiel der »Simulakren«, der Trugbilder, einen »Interpretationstaumel«.
 
Baudrillard spricht von »Hypertelie«, um einen Zustand zu bezeichnen, der bereits jenseits der Verwirklichung utopischer Ziele liegt. Dass damit nicht das Paradies als erreicht gilt, deutet er nicht als falsche Verwirklichung wahrer Ideale, sondern als Beweis für die Falschheit der Ideale. Als Alternative zum Fortschrittsstreben schlägt Baudrillard »fatale Strategien« vor. Er rät, die Macht grenzenlos zu bestärken, damit sie in ihrer ungehemmten Ausdehnung früher oder später selbstzerstörerisch wird. Das ist eine in der Tat fatale, eine gefährlich mystische Vorstellung von Subversion durch »Verführung« des Gegners zum Exzess.
 
Den besseren Zustand könnte man mit Adorno als einen charakterisieren, »in dem man ohne Angst verschieden sein kann«. Der Sinn dafür, was das bedeutet, könnte im Durchgang durch die Philosophien der Differenz geschärft werden.
 
Dr. Rolf Wiggershaus
 
 
Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, herausgegeben von Rüdiger Bubner. Band 8: 20. Jahrhundert, herausgegeben von Reiner Wiehl. Neuausgabe Stuttgart 1995.
 
Philosophie der Gegenwart, herausgegeben von Josef Speck. 6 Bände. Göttingen 2-31984—92.
 
Philosophie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Anton Hügli und Poul Lübcke. 2 Bände. Reinbek 2-31996—98.
 Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung.4 Bände. Stuttgart 1-81987—89.

Universal-Lexikon. 2012.

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